"Es geht überraschend wenig um Sex"
Satin, Dessous und rote Hinterzimmer: über Prostitution gibt es viele Klischees – und wenige, die wirklich Bescheid wissen. Eine von ihnen ist Sarah Baumann. Sie schreibt eine Dissertation über die Geschichte der Sexarbeit in der Schweiz zwischen 1950 und 1990.
Sarah Baumann, in den meisten Dissertationen gibt’s weder Sex noch Crime – bei Ihnen gibt’s beides!
(Lacht) Das stimmt, aber das ist nicht der Grund, warum ich mich mit Prostitution beschäftige. Das Thema ist zum Einen nach 1945 kaum erforscht und zum Anderen eine spannende Projektionsfläche. Anhand der Prostitution werden alle möglichen gesellschaftlichen Themen verhandelt!
Beispielsweise?
Geschlechterrollen, Machtverhältnisse, die Vorstellung von weiblicher und männlicher Sexualität. Was kann, was soll, was darf ein Mann oder eine Frau? In den 1950er-Jahren wurde die Autorin Iris von Roten von der Polizei verhört, weil sie spät nachts alleine und in einen Ozelotmantel gekleidet unterwegs war – und deswegen für eine Prostituierte gehalten wurde.
Wie wurde denn Prostitution in den 1950er-Jahren überhaupt angesehen?
Damals gab es noch den Begriff der «gewerbsmässigen Unzucht». «Unzucht» bedeutet ausserehelichen Sex, der störte bei Frauen ganz besonders. Und am «gewerbsmässigen» irritierte, dass etwas scheinbar so Privates und Intimes wie Sexualität mit der Sphäre von Wirtschaft und Gelderwerb verknüpft wurde. Prostitution wurde als etwas gesehen, das die öffentliche Moral, die Jugend und die Familie bedrohte. Diese moralische Sichtweise änderte sich mit der Zeit. Zum Beispiel kam es in den 1960er-Jahren wegen der Prostitution mancherorts zu erhöhter Verkehrsbelastung. Da störten sich die Leute dann primär am Lärm. Vereinfacht kann man sagen: gestört hat die Prostitution immer – aber nicht immer aus denselben Gründen.
Wie erforscht man überhaupt ein Thema, das sich fast schon per Definition im Verborgenen abspielt?
Anhand von Quellen. Es gibt mediale Debatten, aber auch Zeugnisse von Prostituierten selbst. Die «Prostituiertenbiografie» ist seit den 1980er-Jahren beinahe ein literarisches Genre geworden. Ausserdem gibt es Dokumente von Beratungsstellen für Prostituierte und schliesslich Gerichtsakten und polizeiliche Verhörprotokolle. Was hingegen fehlt ist die Perspektive der Freier. Die hatten keinen Verband, noch haben sie Biografien geschrieben.
Und wie sieht es mit statistischen Daten aus?
Wenn es um die Frage geht, wieviele Prostituierte zu welchem Zeitpunkt in einer Stadt gearbeitet haben, ist es tatsächlich schwierig, an verlässliche Zahlen zu kommen. Von einer Mitarbeiterin der Genfer Beratungsstelle für Prostituierte «Aspasie» weiss ich: «Vorhandene Statistiken zu Prostitution und Prostituierten sind grundsätzlich falsch.» Dies vor allem deshalb, weil die Dunkelziffer der nicht registrierten Prostituierten hoch ist.
Andere Zahlen lassen sich mit einiger Recherche aufspüren. So kostete der Geschlechtsverkehr bei einer professionellen Prostituierten zwischen 1950 und 1980 immer etwa hundert Franken. Das klingt nach Kontinuität, inflationsbereinigt haben sich die Preise damit aber mehr als halbiert.
Was ist denn der grösste Mythos wenn es um Prostitution geht?
Dass sie ein Randphänomen ist. Aktuelle Studien zeigen, dass in der Schweiz jeder fünfte Mann ein Freier ist. Auch die Vorstellung, dass nur Single-Männer, die Schwierigkeiten haben, Frauen kennenzulernen zu Prostituierten gehen, stimmt nicht. Den typischen Prostitutionskunden gibt es nicht. Konsument/innen wie auch Anbieter/innen von Prostitution finden sich in allen Schichten und Nationalitäten. Prostitution ist Teil unserer Gesellschaft. Sie findet vor unseren Augen statt – ob wir nun hinsehen oder nicht.
Sie meinen damit den Strassenstrich?
Nein, der ist nur die sichtbarste Form der Prostitution. Heute macht er etwa noch 10 Prozent aus. Früher waren es sicher mehr und der Strassenstrich wurde stets besonders heiss diskutiert weil er so sichtbar und hörbar war – weil er so störte. Das führte dann immer wieder zu Katz- und Maus-Spielen: Die Polizei verdrängte die Sexarbeiterinnen aus einem Quartier, dafür tauchten sie in einem andern wieder auf. Eine Reaktion auf die Verdrängung des Strassenstrichs war in den 1970er- und 1980er-Jahren das Aufkommen von Salons sowie das Erscheinen von Sex-Inseraten. In diesen beschrieben sich die Frauen mit kurzen Texten, die Freier schickten ihnen Briefe und dann trafen sie sich – im Salon oder in der Privatwohnung der Prostituierten. Heute funktioniert diese Kontaktaufnahme natürlich übers Internet. Nebst etwa 10 Prozent Strassenstrich finden heute etwas 60 Prozent der Prostitution in Wohnhäusern und Bordellen statt. Und schliesslich bleiben noch etwa 30 Prozent in Salons und Kontaktbars, also Etablissements die irgendwo zwischen Bar und Bordell anzusiedeln sind.
In der öffentlichen Debatte gibt es heute zwei dominierende Sichtweisen. Die Einen sehen Prostituierte als bemitleidenswerte Opfer, die geschützt werden müssen. Die Anderen sehen selbstbestimmte Dienstleisterinnen, die sich freiwillig für ihren Beruf entschieden haben. Wie sehen Sie das: Warum entscheiden sich Menschen für die Prostitution?
Zunächst einmal ist es wichtig zwischen Zwangsprostitution als eine Form des Menschenhandels und freiwilliger Prostitution zu unterscheiden. Jene, die sich selbst für die Prostitution entscheiden, tun dies in den allermeisten Fällen aus ökonomischen Gründen – was zeigt, dass der Begriff der Freiwilligkeit ambivalent ist. Wir alle müssen Geld verdienen, aber nicht alle haben dieselben Möglichkeiten, dies zu tun. Sagen wir, jemand kommt aus armen Verhältnissen, konnte keine Ausbildung machen und geht einer harten und schlecht bezahlten Arbeit nach. Wenn sich diese Person für die Sexarbeit entscheidet, dann tut sie das zwar freiwillig, aber es ist eine andere Freiwilligkeit, als wenn jemand zum Beispiel ein Studium machen konnte und sich überlegt, ob sie jetzt als Anwältin, Ärztin, Architektin oder Sexarbeiterin arbeiten will. Wer die Gründe verstehen will, warum sich jemand prostituiert, sollte sich vor allem mit den sozialen und wirtschaftlichen Möglichkeiten beschäftigen, die die betroffenen Personen haben.
Woher kommen die Prostituierten denn geographisch?
In meinem Untersuchungszeitraum (1950-1990) grösstenteils aus der Schweiz. Für Schweizerinnen ist die Prostitution seit 1942 legal – Ausländerinnen hingegen riskierten, ausgeschafft zu werden. In den 1980er-Jahren stieg allerdings die Zahl von Asiatinnen und Afrikanerinnen, die in Massagesalons und Striplokalen arbeiteten und sich illegal prostituierten – diese Situation wurde mit der Einführung des sogenannten «Tänzerinnenstatuts» 1995 teilweise legalisiert. Das Statut wurde 2016 aber wieder abgeschafft. Eine letzte Veränderung gab es mit der Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf Osteuropa im Jahr 2002. Die liberaleren Bestimmungen eröffneten Ausländerinnen die Möglichkeit, in der Schweiz als Sexarbeiterin zu arbeiten – gerade für gering qualifizierte Ausländerinnen von ausserhalb der EU ist die Prostitution oft die einzige Möglichkeit, überhaupt in der Schweiz zu arbeiten.
Ebenfalls am Schluss Ihrer Untersuchung kommt es in der Schweiz zu einer Drogenkrise und zur Verbreitung von AIDS. Wie hat sich das auf die Prostitution ausgewirkt?
Das konnte ich noch nicht im Detail studieren. Was ich weiss ist, dass es zu Konflikten zwischen etablierten Prostituierten und Drogenprostituierten kam, die billiger anschafften und so die Preise drückten. Auch kam es zu mehr Gewalt an Prostituierten, die aufgrund ihrer Drogenabhängigkeit wehrloser waren gegen gewalttätige Kunden, aber auch etwa gegen ungeschützten Verkehr. Durch die Drogenprostitution veränderte sich auch der Blick auf die Prostitution überhaupt, indem die Leute dachten, alle Prostituierten seien süchtig.
Mit AIDS kam die alte Geschichte von der Prostituierten als Trägerin von Geschlechtskrankheiten wieder auf. Dazu gab es schon in den 1920er-Jahren epidemiologische Studien, welche das Vorurteil widerlegten und zeigten, dass sich Geschlechtskrankheiten auch ausserhalb von Prostitution und besonders in Ehegemeinschaften verbreiteten.
AIDS galt ja lange als Schwulenkrankheit. Wie sah es eigentlich mit der homosexuellen Prostitution aus?
Die war im Gegensatz zur Heterosexuellen bis 1992 verboten. Diese Ungleichbehandlung bedeutete auch eine Stärkung der heterosexuellen Norm. Und während bei der heterosexuellen Prostitution eher selten über die Freier diskutiert wurde, rückten sie bei der homosexuellen Variante in den Fokus. Was an der Prostitution zwischen Männern störte, war weniger die Prostitution als die Homosexualität. Strichjungen galten als im Grunde heterosexuelle Männer, die von den «verkommenen» Homosexuellen ausgenützt wurden. Weltweit sind heute übrigens etwa 85% der Prostituierten weiblich. Der Rest sind Männer und Transmenschen.
Ein Modell, bei dem die Freier explizit thematisiert werden ist heute das sogenannte «Schwedische Modell». Dieses erlaubt das Anbieten sexueller Dienste gegen Geld, stellt aber den Konsum unter Strafe.
Das ist tatsächlich eine Veränderung: statt den Anbieterinnen kriminalisiert man die Kunden. Die Gesellschaft sagt gewissermassen «Wir tolerieren nicht, dass Sexualität gekauft wird». Ob das gelingt, ist allerdings umstritten. Die schwedische Regierung spricht von einem Erfolg. Schattenberichte von NGOs zeigen aber, dass es zu einer Verlagerung in die Illegalität führt. Weg von der Strasse, weg von Bordellen, rein in dubiose Hinterhöfe und Privatzimmer – und dort sind Prostituierte noch schwerer zu schützen.
In der TV-Serie «House of Cards» sagt Kevin Spacey: «Alles im Leben dreht sich um Sex. Ausser Sex. Sex dreht sich um Macht.»
Das hat etwas. In den Quellen, die ich anschaue, geht es tatsächlich überraschend wenig um Sex, sondern sehr viel mehr um Machtverhältnisse. Staat, Behörden und Gesellschaft üben Macht aus und bestimmen, welche Form von Sexualität toleriert wird und welche nicht. Die Freier kaufen sich Macht, um bestimmen zu können, was passiert. Manche Feministinnen sehen in der Prostitution deshalb auch die krasseste Erscheinungsform des Patriarchats. Aber auch Prostituierte sagen von sich, dass sie eine gewisse Macht über ihre Kunden haben. Und letztlich geht es immer auch um die machtvolle Definition von Geschlechterrollen oder um die Definition davon, wie weibliche oder männliche Sexualität aussieht.
Was haben Sie durch die Beschäftigung mit der Prostitution ganz persönlich gelernt?
Meine Arbeit hat vor allem meinen Blick für die Uneindeutigkeit des Themas geschärft. Anfangs spickte es mich oft zwischen zwei Polen hin und her: Ist Prostitution immer Unterdrückung? Oder ist eine selbstbestimmte Form der Prostitution möglich? Mal las ich einen Quellenkorpus und war betroffen ob der Gewalterfahrungen von Prostituierten, und ich fragte mich, wie wir das als Gesellschaft tolerieren können. Dann las ich andere Quellen, in denen Prostituierte als selbstbewusste und autonome Akteurinnen zum Ausdruck kommen. Die Pole bringen uns nicht weiter und vor allem repräsentieren sie die Realität nicht richtig. Prostitution ist Vielfältig, Uneindeutig und Ambivalent. Das muss man aushalten – sonst wird man dem Phänomen nicht gerecht.
Zum Schluss eine utopische Frage: Oft heisst es ja «um dieses Problem zu lösen müssen wir jetzt dies oder das tun». Haben Sie persönlich eine Vision, wie Prostitution idealerweise stattfinden müsste?
Ja, die Diskussionen drehen sich oft um Verbote. Sie werden aus der Perspektive der Gesellschaft und des Gesetzgebers geführt, nicht aus der Optik der betroffenen Menschen. Dabei sollte man dort ansetzen, bei der Frage, welche Möglichkeiten die Menschen haben.
In meiner utopischen Welt hätten alle Menschen dieselben sozialen und ökonomischen Voraussetzungen und könnten selbstbestimmt leben. Dann hätten sie wirkliche Wahlmöglichkeiten und könnten sich aus freien Stücken für oder gegen diese oder jene Arbeit entscheiden. Wenn sich in einer solchen Welt jemand entscheidet, Sexarbeit anzubieten und ein anderer sie konsumieren möchte – dann warum nicht?
Wenn Sie eine realistischere Antwort wollen, dann wäre schon viel erreicht, wenn man die Widersprüche in den Gesetzen angehen würde. Prostituierte bezahlen Steuern, müssen sich anmelden, durchlaufen komplexe Bewilligungsverfahren. Im Kanton Bern müssen sie sogar einen Businessplan aufstellen. Trotzdem gibt es immer noch einen Artikel im ZGB, der besagt, dass Prostitution unsittlich ist – was bedeutet, dass eine Prostituierte ihren Lohn nicht vor Gericht einklagen kann.
Das Gespräch erschien zuerst auf dem Portal Alma & Georges der Universität Freiburg.
Satin, Dessous und rote Hinterzimmer: über Prostitution gibt es viele Klischees – und wenige, die wirklich Bescheid wissen. Eine von ihnen ist Sarah Baumann. Sie schreibt eine Dissertation über die Geschichte der Sexarbeit in der Schweiz zwischen 1950 und 1990.
Sarah Baumann, in den meisten Dissertationen gibt’s weder Sex noch Crime – bei Ihnen gibt’s beides!
(Lacht) Das stimmt, aber das ist nicht der Grund, warum ich mich mit Prostitution beschäftige. Das Thema ist zum Einen nach 1945 kaum erforscht und zum Anderen eine spannende Projektionsfläche. Anhand der Prostitution werden alle möglichen gesellschaftlichen Themen verhandelt!
Beispielsweise?
Geschlechterrollen, Machtverhältnisse, die Vorstellung von weiblicher und männlicher Sexualität. Was kann, was soll, was darf ein Mann oder eine Frau? In den 1950er-Jahren wurde die Autorin Iris von Roten von der Polizei verhört, weil sie spät nachts alleine und in einen Ozelotmantel gekleidet unterwegs war – und deswegen für eine Prostituierte gehalten wurde.
Wie wurde denn Prostitution in den 1950er-Jahren überhaupt angesehen?
Damals gab es noch den Begriff der «gewerbsmässigen Unzucht». «Unzucht» bedeutet ausserehelichen Sex, der störte bei Frauen ganz besonders. Und am «gewerbsmässigen» irritierte, dass etwas scheinbar so Privates und Intimes wie Sexualität mit der Sphäre von Wirtschaft und Gelderwerb verknüpft wurde. Prostitution wurde als etwas gesehen, das die öffentliche Moral, die Jugend und die Familie bedrohte. Diese moralische Sichtweise änderte sich mit der Zeit. Zum Beispiel kam es in den 1960er-Jahren wegen der Prostitution mancherorts zu erhöhter Verkehrsbelastung. Da störten sich die Leute dann primär am Lärm. Vereinfacht kann man sagen: gestört hat die Prostitution immer – aber nicht immer aus denselben Gründen.
Wie erforscht man überhaupt ein Thema, das sich fast schon per Definition im Verborgenen abspielt?
Anhand von Quellen. Es gibt mediale Debatten, aber auch Zeugnisse von Prostituierten selbst. Die «Prostituiertenbiografie» ist seit den 1980er-Jahren beinahe ein literarisches Genre geworden. Ausserdem gibt es Dokumente von Beratungsstellen für Prostituierte und schliesslich Gerichtsakten und polizeiliche Verhörprotokolle. Was hingegen fehlt ist die Perspektive der Freier. Die hatten keinen Verband, noch haben sie Biografien geschrieben.
Und wie sieht es mit statistischen Daten aus?
Wenn es um die Frage geht, wieviele Prostituierte zu welchem Zeitpunkt in einer Stadt gearbeitet haben, ist es tatsächlich schwierig, an verlässliche Zahlen zu kommen. Von einer Mitarbeiterin der Genfer Beratungsstelle für Prostituierte «Aspasie» weiss ich: «Vorhandene Statistiken zu Prostitution und Prostituierten sind grundsätzlich falsch.» Dies vor allem deshalb, weil die Dunkelziffer der nicht registrierten Prostituierten hoch ist.
Andere Zahlen lassen sich mit einiger Recherche aufspüren. So kostete der Geschlechtsverkehr bei einer professionellen Prostituierten zwischen 1950 und 1980 immer etwa hundert Franken. Das klingt nach Kontinuität, inflationsbereinigt haben sich die Preise damit aber mehr als halbiert.
Was ist denn der grösste Mythos wenn es um Prostitution geht?
Dass sie ein Randphänomen ist. Aktuelle Studien zeigen, dass in der Schweiz jeder fünfte Mann ein Freier ist. Auch die Vorstellung, dass nur Single-Männer, die Schwierigkeiten haben, Frauen kennenzulernen zu Prostituierten gehen, stimmt nicht. Den typischen Prostitutionskunden gibt es nicht. Konsument/innen wie auch Anbieter/innen von Prostitution finden sich in allen Schichten und Nationalitäten. Prostitution ist Teil unserer Gesellschaft. Sie findet vor unseren Augen statt – ob wir nun hinsehen oder nicht.
Sie meinen damit den Strassenstrich?
Nein, der ist nur die sichtbarste Form der Prostitution. Heute macht er etwa noch 10 Prozent aus. Früher waren es sicher mehr und der Strassenstrich wurde stets besonders heiss diskutiert weil er so sichtbar und hörbar war – weil er so störte. Das führte dann immer wieder zu Katz- und Maus-Spielen: Die Polizei verdrängte die Sexarbeiterinnen aus einem Quartier, dafür tauchten sie in einem andern wieder auf. Eine Reaktion auf die Verdrängung des Strassenstrichs war in den 1970er- und 1980er-Jahren das Aufkommen von Salons sowie das Erscheinen von Sex-Inseraten. In diesen beschrieben sich die Frauen mit kurzen Texten, die Freier schickten ihnen Briefe und dann trafen sie sich – im Salon oder in der Privatwohnung der Prostituierten. Heute funktioniert diese Kontaktaufnahme natürlich übers Internet. Nebst etwa 10 Prozent Strassenstrich finden heute etwas 60 Prozent der Prostitution in Wohnhäusern und Bordellen statt. Und schliesslich bleiben noch etwa 30 Prozent in Salons und Kontaktbars, also Etablissements die irgendwo zwischen Bar und Bordell anzusiedeln sind.
In der öffentlichen Debatte gibt es heute zwei dominierende Sichtweisen. Die Einen sehen Prostituierte als bemitleidenswerte Opfer, die geschützt werden müssen. Die Anderen sehen selbstbestimmte Dienstleisterinnen, die sich freiwillig für ihren Beruf entschieden haben. Wie sehen Sie das: Warum entscheiden sich Menschen für die Prostitution?
Zunächst einmal ist es wichtig zwischen Zwangsprostitution als eine Form des Menschenhandels und freiwilliger Prostitution zu unterscheiden. Jene, die sich selbst für die Prostitution entscheiden, tun dies in den allermeisten Fällen aus ökonomischen Gründen – was zeigt, dass der Begriff der Freiwilligkeit ambivalent ist. Wir alle müssen Geld verdienen, aber nicht alle haben dieselben Möglichkeiten, dies zu tun. Sagen wir, jemand kommt aus armen Verhältnissen, konnte keine Ausbildung machen und geht einer harten und schlecht bezahlten Arbeit nach. Wenn sich diese Person für die Sexarbeit entscheidet, dann tut sie das zwar freiwillig, aber es ist eine andere Freiwilligkeit, als wenn jemand zum Beispiel ein Studium machen konnte und sich überlegt, ob sie jetzt als Anwältin, Ärztin, Architektin oder Sexarbeiterin arbeiten will. Wer die Gründe verstehen will, warum sich jemand prostituiert, sollte sich vor allem mit den sozialen und wirtschaftlichen Möglichkeiten beschäftigen, die die betroffenen Personen haben.
Woher kommen die Prostituierten denn geographisch?
In meinem Untersuchungszeitraum (1950-1990) grösstenteils aus der Schweiz. Für Schweizerinnen ist die Prostitution seit 1942 legal – Ausländerinnen hingegen riskierten, ausgeschafft zu werden. In den 1980er-Jahren stieg allerdings die Zahl von Asiatinnen und Afrikanerinnen, die in Massagesalons und Striplokalen arbeiteten und sich illegal prostituierten – diese Situation wurde mit der Einführung des sogenannten «Tänzerinnenstatuts» 1995 teilweise legalisiert. Das Statut wurde 2016 aber wieder abgeschafft. Eine letzte Veränderung gab es mit der Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf Osteuropa im Jahr 2002. Die liberaleren Bestimmungen eröffneten Ausländerinnen die Möglichkeit, in der Schweiz als Sexarbeiterin zu arbeiten – gerade für gering qualifizierte Ausländerinnen von ausserhalb der EU ist die Prostitution oft die einzige Möglichkeit, überhaupt in der Schweiz zu arbeiten.
Ebenfalls am Schluss Ihrer Untersuchung kommt es in der Schweiz zu einer Drogenkrise und zur Verbreitung von AIDS. Wie hat sich das auf die Prostitution ausgewirkt?
Das konnte ich noch nicht im Detail studieren. Was ich weiss ist, dass es zu Konflikten zwischen etablierten Prostituierten und Drogenprostituierten kam, die billiger anschafften und so die Preise drückten. Auch kam es zu mehr Gewalt an Prostituierten, die aufgrund ihrer Drogenabhängigkeit wehrloser waren gegen gewalttätige Kunden, aber auch etwa gegen ungeschützten Verkehr. Durch die Drogenprostitution veränderte sich auch der Blick auf die Prostitution überhaupt, indem die Leute dachten, alle Prostituierten seien süchtig.
Mit AIDS kam die alte Geschichte von der Prostituierten als Trägerin von Geschlechtskrankheiten wieder auf. Dazu gab es schon in den 1920er-Jahren epidemiologische Studien, welche das Vorurteil widerlegten und zeigten, dass sich Geschlechtskrankheiten auch ausserhalb von Prostitution und besonders in Ehegemeinschaften verbreiteten.
AIDS galt ja lange als Schwulenkrankheit. Wie sah es eigentlich mit der homosexuellen Prostitution aus?
Die war im Gegensatz zur Heterosexuellen bis 1992 verboten. Diese Ungleichbehandlung bedeutete auch eine Stärkung der heterosexuellen Norm. Und während bei der heterosexuellen Prostitution eher selten über die Freier diskutiert wurde, rückten sie bei der homosexuellen Variante in den Fokus. Was an der Prostitution zwischen Männern störte, war weniger die Prostitution als die Homosexualität. Strichjungen galten als im Grunde heterosexuelle Männer, die von den «verkommenen» Homosexuellen ausgenützt wurden. Weltweit sind heute übrigens etwa 85% der Prostituierten weiblich. Der Rest sind Männer und Transmenschen.
Ein Modell, bei dem die Freier explizit thematisiert werden ist heute das sogenannte «Schwedische Modell». Dieses erlaubt das Anbieten sexueller Dienste gegen Geld, stellt aber den Konsum unter Strafe.
Das ist tatsächlich eine Veränderung: statt den Anbieterinnen kriminalisiert man die Kunden. Die Gesellschaft sagt gewissermassen «Wir tolerieren nicht, dass Sexualität gekauft wird». Ob das gelingt, ist allerdings umstritten. Die schwedische Regierung spricht von einem Erfolg. Schattenberichte von NGOs zeigen aber, dass es zu einer Verlagerung in die Illegalität führt. Weg von der Strasse, weg von Bordellen, rein in dubiose Hinterhöfe und Privatzimmer – und dort sind Prostituierte noch schwerer zu schützen.
In der TV-Serie «House of Cards» sagt Kevin Spacey: «Alles im Leben dreht sich um Sex. Ausser Sex. Sex dreht sich um Macht.»
Das hat etwas. In den Quellen, die ich anschaue, geht es tatsächlich überraschend wenig um Sex, sondern sehr viel mehr um Machtverhältnisse. Staat, Behörden und Gesellschaft üben Macht aus und bestimmen, welche Form von Sexualität toleriert wird und welche nicht. Die Freier kaufen sich Macht, um bestimmen zu können, was passiert. Manche Feministinnen sehen in der Prostitution deshalb auch die krasseste Erscheinungsform des Patriarchats. Aber auch Prostituierte sagen von sich, dass sie eine gewisse Macht über ihre Kunden haben. Und letztlich geht es immer auch um die machtvolle Definition von Geschlechterrollen oder um die Definition davon, wie weibliche oder männliche Sexualität aussieht.
Was haben Sie durch die Beschäftigung mit der Prostitution ganz persönlich gelernt?
Meine Arbeit hat vor allem meinen Blick für die Uneindeutigkeit des Themas geschärft. Anfangs spickte es mich oft zwischen zwei Polen hin und her: Ist Prostitution immer Unterdrückung? Oder ist eine selbstbestimmte Form der Prostitution möglich? Mal las ich einen Quellenkorpus und war betroffen ob der Gewalterfahrungen von Prostituierten, und ich fragte mich, wie wir das als Gesellschaft tolerieren können. Dann las ich andere Quellen, in denen Prostituierte als selbstbewusste und autonome Akteurinnen zum Ausdruck kommen. Die Pole bringen uns nicht weiter und vor allem repräsentieren sie die Realität nicht richtig. Prostitution ist Vielfältig, Uneindeutig und Ambivalent. Das muss man aushalten – sonst wird man dem Phänomen nicht gerecht.
Zum Schluss eine utopische Frage: Oft heisst es ja «um dieses Problem zu lösen müssen wir jetzt dies oder das tun». Haben Sie persönlich eine Vision, wie Prostitution idealerweise stattfinden müsste?
Ja, die Diskussionen drehen sich oft um Verbote. Sie werden aus der Perspektive der Gesellschaft und des Gesetzgebers geführt, nicht aus der Optik der betroffenen Menschen. Dabei sollte man dort ansetzen, bei der Frage, welche Möglichkeiten die Menschen haben.
In meiner utopischen Welt hätten alle Menschen dieselben sozialen und ökonomischen Voraussetzungen und könnten selbstbestimmt leben. Dann hätten sie wirkliche Wahlmöglichkeiten und könnten sich aus freien Stücken für oder gegen diese oder jene Arbeit entscheiden. Wenn sich in einer solchen Welt jemand entscheidet, Sexarbeit anzubieten und ein anderer sie konsumieren möchte – dann warum nicht?
Wenn Sie eine realistischere Antwort wollen, dann wäre schon viel erreicht, wenn man die Widersprüche in den Gesetzen angehen würde. Prostituierte bezahlen Steuern, müssen sich anmelden, durchlaufen komplexe Bewilligungsverfahren. Im Kanton Bern müssen sie sogar einen Businessplan aufstellen. Trotzdem gibt es immer noch einen Artikel im ZGB, der besagt, dass Prostitution unsittlich ist – was bedeutet, dass eine Prostituierte ihren Lohn nicht vor Gericht einklagen kann.
Das Gespräch erschien zuerst auf dem Portal Alma & Georges der Universität Freiburg.