Dagobert Duck hat seinen Glückstaler - ich habe den Artikel zum Autostopp. Mein damaliger Prof wurde von einem sympathischen kleinen Magazin für einen Artikel angefragt und trat den Auftrag an mich ab. Mein Text wurde dann für so gut befunden, dass er vom Tages-Anzeiger und vom Kleinen Bund übernommen wurde. Fortan war ich überzeugt, dass ich schreiben könne. Hier der Text.
DAS GEGENTEIL VON ALL-INCLUSIVE
Vor Kurzem standen sie noch an der Strasse. Mit Rucksack, Pappschild und gerecktem Daumen. Inzwischen sind die Autostopper fast verschwunden. Eine Spurensuche am Strassenrand der Geschichte.
Wer an der Strasse steht, muss etwas aushalten. Kälte, Hitze, Wind und Wetter. Einsamkeit, Enttäuschung, Langeweile. Er braucht Zuversicht, Gelassenheit und das unerschütterliche Vertrauen darauf, dass irgendwann schon einer kommen wird, ein Fremder, der ihn mitnimmt. Autostopper liefern sich aus. Dem Zufall, den Göttern oder noch schlimmer: den Mitmenschen.
Es muss an einem Tag in den späten 1940ern gewesen sein, als sich Dean Moriarty irgendwo in der Nähe von Denver erstmals an die Strasse stellte, um mitgenommen zu werden. Nicht dass Moriarty das Trampen erfunden hätte. Erstens taten sich Reisende schon früher zusammen, und zweitens war Dean Moriarty bloss eine Romanfigur. Wenn auch eine ausgesprochen erfolgreiche. Jugendliche identifizierten sich leicht mit dem ungestümen und rastlosen Rebellen, der per Autostopp und auf Güterzügen durch die Weiten der USA streifte – und dabei auch nicht so genau wusste, wonach er eigentlich suchte. Jack Kerouacs «On the Road» avancierte nicht nur zum Bestseller und Literaturklassiker, sondern auch zum Manifest der «Beat-Generation».
«Nowhere to go but everywhere»
Mit «On the Road» wurde die Reise per Autostopp neu interpretiert. Zuvor waren vor allem Tagelöhner getrampt, Wanderarbeiter und Migranten auf der Suche nach einer besseren Zukunft. Die «Beats» suchten weder Arbeit noch Zukunft, sondern die Gegenwart. «There was nowhere to go but everywhere», verkündete Kerouac. Und so war das Unterwegssein denn auch wichtiger als der Ort, an dem man ankam. Immer mehr Jugendliche erkundeten auf längeren Reisen Nordamerika und Westeuropa. Getrieben vom Durst nach Entdeckungen, Leben, Freiheit und mit einem Faible für Sex, Drugs & Jazz. Mit schäbigen Klamotten und dandyhaftem Esprit begaben sich die Tramper auf ihre oft naive Sinnsuche.
Dabei waren die Beats keine Massenbewegung. Eher ein loser Haufen literarisch interessierter Leute, die nicht nur den Rand der Strasse wählten, sondern auch den Rand der Gesellschaft. Im Amerika der McCarthy-Zeit gerieten sie daher rasch unter Verdacht, mit den Kommunisten zu sympathisieren, weshalb sich in Anspielung auf den Satelliten «Sputnik» die Bezeichnung «Beatnik » einbürgerte.
Per Anhalter durch die Galaxis
Abgang der Beats, Auftritt der Hippies. Die 1960er- und 70er- Jahre waren die Blütezeit des Trampens. Über die Seidenstrasse gelangten Autostopper nun bis nach Afghanistan, Indien, China. Besonders Verwegene verlängerten den Trip per Schiffsstopp und über weitere Kontinente zur Weltreise. Und 1978 setzte die BBC in einer surrealen Hörspiel-Serie gar zum Trip durchs Universum an. Douglas Adams' «The Hitchhiker's Guide to the Galaxy» avancierte rasch zum Kult und verkaufte sich auch in Buchform millionenfach.
Etwas schlechter erging es der wissenschaftlichen Literatur zum Thema. Genauer gesagt: Es gibt sie gar nicht. Zur Geschichte des Autostopps existieren weder Bücher noch Quellen oder Statistiken. Bloss einzelne Reiseberichte und Tagebücher zeugen von einigen speziellen Trips. Etwa «Round Ireland with a Fridge» über einen Engländer, der 1997 mit einem Kühlschrank durch die grüne Insel stoppte. Wenn es aber darum geht, wann wie oft getrampt wurde, wer unterwegs war und wo das Autostoppen besonders populär gewesen ist, bleiben sämtliche Fragen offen. Wenigstens der Ursprung des Wortes «trampen» ist einigermassen klar. Es gelangte vom Niederdeutschen ins Altenglische und meinte ursprünglich genau das, was es hierzulande noch heute bedeutet: Mit dem Fuss schwer aufsetzen. Im Angelsächsischen veränderte
sich der Sinn dann allerdings zu «wandern», «herumstreifen», was später auch als amouröses Herumflanieren verstanden wurde, sodass es dann im Jazzklassiker hiess: «The Lady is a Tramp!» («Die Dame ist ein Flittchen»).
Apropos: Das zufällige Zusammentreffen zweier Unbekannter war schon immer eine Verlockung für erotische Fantasien. Knisternde Episoden mit am Strassenrand aufgelesenen Fremden bevölkern seit Langem die Groschenromane, Hochglanzheftchen und auch die Kopfkinos mancher Automobilisten. Gerade deshalb wird Frauen immer wieder geraten, nicht alleine zu trampen. Dafür sollen sie wenigstens im Vorteil sein, wenn es darum geht, überhaupt mitgenommen zu werden. Um 1970 wurden einige halbgare Studien zum Autostopp durchgeführt. Erkenntnis: Hilfreich ist es, eine Frau zu sein, den Automobilisten in die Augen zu sehen oder über dick einbandagierte Arme oder Beine zu verfügen.
Langsamer Niedergang
Noch in den 70er-Jahren dürfte allerdings der langsame Niedergang des Trampens eingesetzt haben. 1972 lancierten Europas Bahnen «Interrail». Bereits im ersten Jahr wurden über 80''000 Tickets verkauft, Tendenz rasch steigend. Überhaupt wurde der öffentliche Verkehr immer weiter ausgebaut, selbst abgelegene Orte erschlossen und das Trampen so immer überflüssiger. Gerade für Jugendliche schufen Bus- und Bahnbetriebe attraktive Spezialangebote. Zugleich verfügten diese über tendenziell mehr Geld, sodass sie weniger auf Mitfahrgelegenheiten angewiesen waren als ihre Altersgenossen in früheren Jahrzehnten.
Aber auch der eigene Erfolg machte dem Trampen zu schaffen. Auf Routen, die bei den Rucksacktouristen besonders beliebt waren, wurde das touristische Angebot bald ausgebaut. Aus Autos wurden Taxis, aus Taxis wurden Busse. Gasthäuser mutierten zu Herbergen und weiter zu Hotels. Schliesslich entstand aus dem individuellen Reisen eine touristische Industrie mit Verkehrs-, Verpflegungs- und Übernachtungsangeboten und mit Reiseführern, die in grosser Auflage «Geheimtipps» in die Welt posaunten. Das improvisierte Reiseerlebnis der Autostopper wurde Stück für Stück verändert, verbessert und kommerzialisiert. So ist die Vorstellung, «Lonely Planet»-Abenteurer betrieben einen «individuellen Tourismus» nicht naiv, sondern absurd.
Easyjet und Internet
Wirklich drastisch wurde der Rückgang des Autostoppens schliesslich in den 90er- und 00er-Jahren. Low-Cost-Airlines machten Flugreisen in Europa geradezu lächerlich billig. Und via Internet liess sich online arrangieren, was bislang der Zufall geregelt hatte. Wenn man heute billig (mit-)reisen will, organisiert man seinen Trip über Plattformen wie «mitfahrgelegenheit.de» und seine Übernachtung auf einem WG-Sofa via «couchsurfing.org».
Wer seine Reise per Internet plant, weiss genau, wer ihn wo und wann abholt. Und er kann davon ausgehen, dass sein Fahrer nicht irgendwer ist, sondern jemand, der ihm in vielerlei Hinsicht gleicht. Frühere Tramper vertrauten sich der Gesellschaft an; die Online-Mitfahrer von heute begeben sich in eine virtuelle «Community ». Damit lassen sich Reisen zwar besser planen, zufällige Begegnungen mit gerade Dahergefahrenen bringt dieses System aber zum Verschwinden. Man muss nicht Peter Bichsel heissen, um in diesem Wandel einen Verlust zu sehen.
Veränderung der Reisekultur
Es sind nicht nur die «harten Fakten», die Billigflüge oder das Internet, die das Autostoppen zum Verschwinden bringen. Es ist auch ein Wandel des Zeitgeists. Autostoppen bedeutet Unsicherheit, Alleinsein, Langeweile. Es bedeutet, dass man vieles nicht im Griff hat. Und es bedeutet, dass man sich mit Wildfremden in einen engen Raum setzen, ihnen vertrauen und sich mit ihnen beschäftigen muss. Trampen ist ausserdem furchtbar langsam und herrlich ineffizient. Die Idee, die Kontrolle über sich und sein Vorwärtskommen aus der Hand zu geben und dabei Zeit zu vertrödeln, ist heute ein einziger Anachronismus. Autostopp ist die unoptimierteste Reiseform überhaupt. Im Gegenzug für seine Mühen beschert das Trampen allerdings Erlebnisse en masse und liefert oft ausgesprochen herzliche Begegnungen. Mit arbeitslosen Fischern, irischen Hochzeitsgesellschaften oder anatolischen Grossfamilien. Und nicht selten ergibt sich aus einer gemeinsamen Fahrt auch eine Einladung zum Essen oder für die Nacht. Autostopp ermöglicht die Erfahrung, dass Menschen einander helfen. Einfach so.
Wer sich die Angebote für Strandferien, Städtetrips, Kreuzfahrten und dergleichen ansieht, entdeckt Gemeinsamkeiten. Sie alle versprechen alles ausser Überraschungen. Und Fremdes nur in einem bekömmlichen Ausmass. Kurz: Reisen ohne Irritationen. Oder anders gesagt: Sie versprechen Reisen, bei denen man eigentlich daheim bleibt. Wenn Reisen aber tatsächlich bilden oder zur persönlichen Reifung beitragen sollen, dann müssen sie irritieren. Dann müssen sie Raum bieten für Unbequemes, Unverhofftes, Schwieriges. Schönes ergibt sich nebenher von selbst und wird ausserdem auch noch viel intensiver erlebt als in der wattierten All-inclusive-Welt. Autostoppen kann genau das bieten. Womöglich ist es an der Zeit für eine Renaissance.
Neue Formen des Autostopps?
Ein paar Anzeichen dafür, dass die Reise per Anhalter tatsächlich wieder aufkommen könnte, gibt es. Nicht für grosse Reisen zwar, aber wenigstens für kürzere Etappen. Auf stark befahrenen Autobahnen in den USA, Australien und Skandinavien existieren bereits heute Spuren, die für Autos mit zwei, drei oder mehr Insassen reserviert sind. Wer schnell vorankommen will, muss andere mitnehmen. Und wer irgendwohin will, weiss, wo er mitgenommen wird.
Ob so etwas hierzulande funktionieren würde? Der Platz dafür wäre vorhanden. Wenn sich heute die gesamte Schweizer Bevölkerung in die aktuell vorhandenen Autos setzen würde, wären noch genügend Plätze frei, um sämtliche Österreicherinnen und Österreicher zu einer Spritztour einzuladen. Gut möglich, dass wir in Zukunft tatsächlich wieder vermehrt gemeinsam unterwegs sein werden. Eigentlich eine ganz sympathische Perspektive
Es muss an einem Tag in den späten 1940ern gewesen sein, als sich Dean Moriarty irgendwo in der Nähe von Denver erstmals an die Strasse stellte, um mitgenommen zu werden. Nicht dass Moriarty das Trampen erfunden hätte. Erstens taten sich Reisende schon früher zusammen, und zweitens war Dean Moriarty bloss eine Romanfigur. Wenn auch eine ausgesprochen erfolgreiche. Jugendliche identifizierten sich leicht mit dem ungestümen und rastlosen Rebellen, der per Autostopp und auf Güterzügen durch die Weiten der USA streifte – und dabei auch nicht so genau wusste, wonach er eigentlich suchte. Jack Kerouacs «On the Road» avancierte nicht nur zum Bestseller und Literaturklassiker, sondern auch zum Manifest der «Beat-Generation».
«Nowhere to go but everywhere»
Mit «On the Road» wurde die Reise per Autostopp neu interpretiert. Zuvor waren vor allem Tagelöhner getrampt, Wanderarbeiter und Migranten auf der Suche nach einer besseren Zukunft. Die «Beats» suchten weder Arbeit noch Zukunft, sondern die Gegenwart. «There was nowhere to go but everywhere», verkündete Kerouac. Und so war das Unterwegssein denn auch wichtiger als der Ort, an dem man ankam. Immer mehr Jugendliche erkundeten auf längeren Reisen Nordamerika und Westeuropa. Getrieben vom Durst nach Entdeckungen, Leben, Freiheit und mit einem Faible für Sex, Drugs & Jazz. Mit schäbigen Klamotten und dandyhaftem Esprit begaben sich die Tramper auf ihre oft naive Sinnsuche.
Dabei waren die Beats keine Massenbewegung. Eher ein loser Haufen literarisch interessierter Leute, die nicht nur den Rand der Strasse wählten, sondern auch den Rand der Gesellschaft. Im Amerika der McCarthy-Zeit gerieten sie daher rasch unter Verdacht, mit den Kommunisten zu sympathisieren, weshalb sich in Anspielung auf den Satelliten «Sputnik» die Bezeichnung «Beatnik » einbürgerte.
Per Anhalter durch die Galaxis
Abgang der Beats, Auftritt der Hippies. Die 1960er- und 70er- Jahre waren die Blütezeit des Trampens. Über die Seidenstrasse gelangten Autostopper nun bis nach Afghanistan, Indien, China. Besonders Verwegene verlängerten den Trip per Schiffsstopp und über weitere Kontinente zur Weltreise. Und 1978 setzte die BBC in einer surrealen Hörspiel-Serie gar zum Trip durchs Universum an. Douglas Adams' «The Hitchhiker's Guide to the Galaxy» avancierte rasch zum Kult und verkaufte sich auch in Buchform millionenfach.
Etwas schlechter erging es der wissenschaftlichen Literatur zum Thema. Genauer gesagt: Es gibt sie gar nicht. Zur Geschichte des Autostopps existieren weder Bücher noch Quellen oder Statistiken. Bloss einzelne Reiseberichte und Tagebücher zeugen von einigen speziellen Trips. Etwa «Round Ireland with a Fridge» über einen Engländer, der 1997 mit einem Kühlschrank durch die grüne Insel stoppte. Wenn es aber darum geht, wann wie oft getrampt wurde, wer unterwegs war und wo das Autostoppen besonders populär gewesen ist, bleiben sämtliche Fragen offen. Wenigstens der Ursprung des Wortes «trampen» ist einigermassen klar. Es gelangte vom Niederdeutschen ins Altenglische und meinte ursprünglich genau das, was es hierzulande noch heute bedeutet: Mit dem Fuss schwer aufsetzen. Im Angelsächsischen veränderte
sich der Sinn dann allerdings zu «wandern», «herumstreifen», was später auch als amouröses Herumflanieren verstanden wurde, sodass es dann im Jazzklassiker hiess: «The Lady is a Tramp!» («Die Dame ist ein Flittchen»).
Apropos: Das zufällige Zusammentreffen zweier Unbekannter war schon immer eine Verlockung für erotische Fantasien. Knisternde Episoden mit am Strassenrand aufgelesenen Fremden bevölkern seit Langem die Groschenromane, Hochglanzheftchen und auch die Kopfkinos mancher Automobilisten. Gerade deshalb wird Frauen immer wieder geraten, nicht alleine zu trampen. Dafür sollen sie wenigstens im Vorteil sein, wenn es darum geht, überhaupt mitgenommen zu werden. Um 1970 wurden einige halbgare Studien zum Autostopp durchgeführt. Erkenntnis: Hilfreich ist es, eine Frau zu sein, den Automobilisten in die Augen zu sehen oder über dick einbandagierte Arme oder Beine zu verfügen.
Langsamer Niedergang
Noch in den 70er-Jahren dürfte allerdings der langsame Niedergang des Trampens eingesetzt haben. 1972 lancierten Europas Bahnen «Interrail». Bereits im ersten Jahr wurden über 80''000 Tickets verkauft, Tendenz rasch steigend. Überhaupt wurde der öffentliche Verkehr immer weiter ausgebaut, selbst abgelegene Orte erschlossen und das Trampen so immer überflüssiger. Gerade für Jugendliche schufen Bus- und Bahnbetriebe attraktive Spezialangebote. Zugleich verfügten diese über tendenziell mehr Geld, sodass sie weniger auf Mitfahrgelegenheiten angewiesen waren als ihre Altersgenossen in früheren Jahrzehnten.
Aber auch der eigene Erfolg machte dem Trampen zu schaffen. Auf Routen, die bei den Rucksacktouristen besonders beliebt waren, wurde das touristische Angebot bald ausgebaut. Aus Autos wurden Taxis, aus Taxis wurden Busse. Gasthäuser mutierten zu Herbergen und weiter zu Hotels. Schliesslich entstand aus dem individuellen Reisen eine touristische Industrie mit Verkehrs-, Verpflegungs- und Übernachtungsangeboten und mit Reiseführern, die in grosser Auflage «Geheimtipps» in die Welt posaunten. Das improvisierte Reiseerlebnis der Autostopper wurde Stück für Stück verändert, verbessert und kommerzialisiert. So ist die Vorstellung, «Lonely Planet»-Abenteurer betrieben einen «individuellen Tourismus» nicht naiv, sondern absurd.
Easyjet und Internet
Wirklich drastisch wurde der Rückgang des Autostoppens schliesslich in den 90er- und 00er-Jahren. Low-Cost-Airlines machten Flugreisen in Europa geradezu lächerlich billig. Und via Internet liess sich online arrangieren, was bislang der Zufall geregelt hatte. Wenn man heute billig (mit-)reisen will, organisiert man seinen Trip über Plattformen wie «mitfahrgelegenheit.de» und seine Übernachtung auf einem WG-Sofa via «couchsurfing.org».
Wer seine Reise per Internet plant, weiss genau, wer ihn wo und wann abholt. Und er kann davon ausgehen, dass sein Fahrer nicht irgendwer ist, sondern jemand, der ihm in vielerlei Hinsicht gleicht. Frühere Tramper vertrauten sich der Gesellschaft an; die Online-Mitfahrer von heute begeben sich in eine virtuelle «Community ». Damit lassen sich Reisen zwar besser planen, zufällige Begegnungen mit gerade Dahergefahrenen bringt dieses System aber zum Verschwinden. Man muss nicht Peter Bichsel heissen, um in diesem Wandel einen Verlust zu sehen.
Veränderung der Reisekultur
Es sind nicht nur die «harten Fakten», die Billigflüge oder das Internet, die das Autostoppen zum Verschwinden bringen. Es ist auch ein Wandel des Zeitgeists. Autostoppen bedeutet Unsicherheit, Alleinsein, Langeweile. Es bedeutet, dass man vieles nicht im Griff hat. Und es bedeutet, dass man sich mit Wildfremden in einen engen Raum setzen, ihnen vertrauen und sich mit ihnen beschäftigen muss. Trampen ist ausserdem furchtbar langsam und herrlich ineffizient. Die Idee, die Kontrolle über sich und sein Vorwärtskommen aus der Hand zu geben und dabei Zeit zu vertrödeln, ist heute ein einziger Anachronismus. Autostopp ist die unoptimierteste Reiseform überhaupt. Im Gegenzug für seine Mühen beschert das Trampen allerdings Erlebnisse en masse und liefert oft ausgesprochen herzliche Begegnungen. Mit arbeitslosen Fischern, irischen Hochzeitsgesellschaften oder anatolischen Grossfamilien. Und nicht selten ergibt sich aus einer gemeinsamen Fahrt auch eine Einladung zum Essen oder für die Nacht. Autostopp ermöglicht die Erfahrung, dass Menschen einander helfen. Einfach so.
Wer sich die Angebote für Strandferien, Städtetrips, Kreuzfahrten und dergleichen ansieht, entdeckt Gemeinsamkeiten. Sie alle versprechen alles ausser Überraschungen. Und Fremdes nur in einem bekömmlichen Ausmass. Kurz: Reisen ohne Irritationen. Oder anders gesagt: Sie versprechen Reisen, bei denen man eigentlich daheim bleibt. Wenn Reisen aber tatsächlich bilden oder zur persönlichen Reifung beitragen sollen, dann müssen sie irritieren. Dann müssen sie Raum bieten für Unbequemes, Unverhofftes, Schwieriges. Schönes ergibt sich nebenher von selbst und wird ausserdem auch noch viel intensiver erlebt als in der wattierten All-inclusive-Welt. Autostoppen kann genau das bieten. Womöglich ist es an der Zeit für eine Renaissance.
Neue Formen des Autostopps?
Ein paar Anzeichen dafür, dass die Reise per Anhalter tatsächlich wieder aufkommen könnte, gibt es. Nicht für grosse Reisen zwar, aber wenigstens für kürzere Etappen. Auf stark befahrenen Autobahnen in den USA, Australien und Skandinavien existieren bereits heute Spuren, die für Autos mit zwei, drei oder mehr Insassen reserviert sind. Wer schnell vorankommen will, muss andere mitnehmen. Und wer irgendwohin will, weiss, wo er mitgenommen wird.
Ob so etwas hierzulande funktionieren würde? Der Platz dafür wäre vorhanden. Wenn sich heute die gesamte Schweizer Bevölkerung in die aktuell vorhandenen Autos setzen würde, wären noch genügend Plätze frei, um sämtliche Österreicherinnen und Österreicher zu einer Spritztour einzuladen. Gut möglich, dass wir in Zukunft tatsächlich wieder vermehrt gemeinsam unterwegs sein werden. Eigentlich eine ganz sympathische Perspektive