1. August 2024
Am 1.8.2024 durfte ich die Ansprache in Oberwil halten. Meine Rede war okay, aber etwas viel Wichtigeres geschah später am Abend. Davon berichtete ich meiner guten Freundin Ondine in leicht betrunkenem Zustand nachts um halb eins. Der Text ist entsprechend etwas fahrig und enthält ungewohnt viele Fluchwörter ...
Liebe Ondine
Ein Glück, dass Dina schon schläft. Sonst würde ich wohl alles ihr erzählen und dann ... hätte ich’s Dir sicher nicht so ungefiltert und halb-betrunken geschrieben, wie ich jetzt bin …
Ich war grad an der 1.-August-Feier in Oberwil, weil ich dort die Ansprache halten durfte. Ich hab eine Woche dran gearbeitet (no shit, wirklich etwa eine Woche!). Und ich war noch immer nicht zufrieden damit, weil ich so furchtbar huere nett war, aber irgendwie auch nicht anders konnte. Schon auch so mit einer Botschaft von "seid mal chli nice miteinander", aber ääähk, letztes Mal wars das erste Mal das war irgendwie geiler und intuitiver und bitz subversiv ... egal, darum geht's gar nicht.
Worum’s geht ist, dass nachher eine Frau zu mir gekommen ist. Vielleicht 70 oder so, ich kann das nie so recht schätzen; vielleicht also auch 75, vielleicht 80. Und sie kam auch nicht sofort, mehr so zwei Stunden später. Und sie ist zu mir hingesessen und um uns herum diese Kantonsfähnli-Girlanden und die Lampions und ich habe mir gesagt, ich hör der jetzt einfach mal fucking zu, weil nämlich sonst nie jemand irgendwem fucking zuhört und also hab ich ihr einfach mal zugehört.
Und am Anfang war soviel Unzufriedenheit, dass sie Freiwilligenarbeit machen will, aber nicht für die Bonzen vom Vorderberg und dass sie im Quartier wohnt, wo jetzt verdichtet wird und dass der Planer gesagt hat, ja die Leute am Vorderberg die wollen halt nicht dass man dort verdichtet und alles ist so mega Scheisse und der Putin und die Welt und die Umwelt und ihre vier Söhne hören ihr auch überhaupt nicht zu und alles ist Scheisse und sie will eigentlich nur noch sterben, aber bei Exit kommt sie damit nicht durch und das hat sie mir alles gesagt und ich hab zugehört und hab nicht argumentiert und nicht «wirdschon» gesagt, sondern einfach nur so gut ich konnte zugehört auf der Waldfestgarnitur während im Hintergrund die Schlagerband «Mariiiiiaaaa» geschunkelt hat oder irgendwas in der Art.
Und als sie fertig war, hab' ich noch immer nicht gross was gesagt, aber immernoch zugehört und also hat sie weitererzählt. Davon, dass ihre Mutter und ihre Schwestern gleich nach dem Krieg für Ferien in die Schweiz gekommen sind (hast du zufällig die SRF-Serie "Frieden" gesehen?), als kriegstraumatisierte Überlebende und dass sie die einzige ist, die nach dem Krieg geboren ist und ihre Familie heilen musste, und dass da soviel transgenerationales Trauma ist, das sie und die ganze Familie beschäftigt und dass sie nach dem Berufsleben ein Psychologiestudium und eine Therapeutinnenausbildung gemacht hat, um Traumatisierten zu helfen und ich bin einfach nur dagesessen und habe zugehört und gedacht, was für ein Geschenk mir die Frau gerade macht (Einschub der Stimme der Vernunft: vielleicht war’s auch schon, als die Jungs gross genug waren oder nach der Scheidung oder so, wie gesagt: es war laut und «Atemlooos» und «Alice, who the fuck is Alice?»).
Jedenfalls habe ich, (wenn ich was gesagt habe), gesagt dass mir das alles mega leid tut und dass ich nichts tun kann für sie und sie hat (wenn ich was gesagt habe) gesagt, dass das immerhin das ist.
Und wir haben vielleicht eine halbe Stunde gesprochen, ich kürze hier etwas ab, und am Schluss hat's sich einfach nach Schluss angefühlt und also habe ich meine eine Hand auf den Tisch gelegt, meine grosse Ben-Hand und sie hat ihre eine Hand, ihre faltige alte kleine Zupackerinnenhand obendrauf gelegt und dann habe ich meine andere Hand wiederum auf ihre Hand obendrauf gelegt und so habe ich sie vielleicht zwei Sekunden gehalten (klingt nach nichts, aber zähl mal auf zwei: ist mega lang) und dabei haben wir uns angesehen und es war ... es war einfach nur gut.
Es war ein riesengrosses Geschenk und das einzige, was ich akustisch («Griiiiechischer Weiiiin»!) nicht verstanden hatte war, ob ihre Familie jüdisch war oder sonst traumatisiert und sonst in die Schweiz geschickt wurde, aber dann habe ich jetzt beim Heimkommen ein Mail von ihr in der Mailbox gehabt (sie wollte ein Ticket für eine Vorstellung von mir kaufen und hats nicht geschafft) und sie hat einen jüdischen Namen und ich weiss nun A), dass sie wohl die Mutter eines ehemaligen Mitschülers von mir ist (den ich gut mag und der ein feiner Kerl ist, obschon ich mir auch das mit dem nicht-zuhören durchaus vorstellen kann). Und B ) verstehe ich nun definitiv, warum sie - als sie etwas von transgenerationalem Trauma gesagt hat und ich dann gesagt habe 'die Familie meiner Frau kam auch im Kontext des 2WK in die Schweiz, ich weiss was transgenerationales Trauma ist' - warum sie also dort gesagt, ich solle gut auf meine Frau aufpassen, was ich mir natürlich zu Herzen nehme.
So, das war jedenfalls die Geschichte von heute Abend und es war mega schön und bitzli betrunken und wenn ich nächstes Mal eine 1.-August-Rede halten soll, dann werde ich imfall sagen «Leute, es gibt Leute hier die haben Verwandte bei beschissenen fucking Verkehrsunfällen verloren, fucking sinnlosen Verkehrsunfällen und andere hier haben Krebs, fucking auch komplett sinnlosen Krebs und wieder andere oder auch dieselben haben transgenerationale Traumata ... ists angesichts von dem allem jetzt wirklich zuviel verlangt, mal ein bisschen nett miteinander zu sein und mal irgendwo einen Baum stehen zu lassen auch wenn’s jetzt kein profitmaximierter Baum ist und überhaupt, Leute, was genau ist eigentlich euer Problem euch gehts doch allen so unglaublich fucking gut?»
Und was ich dir übrigens auch mal noch erzählen wollte, ist, dass viel von dem Mut, den ich in den letzten Jahren habe, von dem Zeug, das ich mich zu trauen beginne, halt einfach auch ganz simpel damit zu tun hat, dass du mich mal gefragt hast, was eigentlich mein Problem ist (ich habe vermutlich von irgendwelchen Schwierigkeiten erzählt, die mich grad beschäftigten). Wovor ich denn eigentlich Angst habe, angesichts der Tatsache dass die ganze verdammte Welt komplett für mich eingerichtet ist und 'the whole freakin’ deck is stacked in your favour!' - oder so ähnlich, wir redeten damals zimmli sicher nicht Englisch miteinander. Und das ist mir imfall extrem geblieben, weil's mir die Augen aufgemacht hat, aber auch weil mir klar geworden ist, dass ich auch eine Verantwortung habe, wenn es mir schon so verdammt mega gut geht und darum habe ich dann angefangen mutig zu sein und ich weiss auch nicht: irgendwie dachte ich, ich könnte Dir das mal erzählen ...
So. Und damit wende ich mich meinem Mitternachtssnack (poah, Jodelchörli und Landeshymne kann man sich ja einmal im Jahr geben, aber in Mayonnaise ersäufter Kartoffelsalat … warum??) und dann dem Bett zu, aber bevor ich das tue, drücke ich dich über die Distanz so fest ich irgendwie kann und sag dir, wie glücklich ich bin, dass es dich gibt. Einen wunderschönen Tag Dir! - Und bis bald.
Ben
(Publiziert, weil Ondine fand, das könnte auch andere interessieren)
Ein Glück, dass Dina schon schläft. Sonst würde ich wohl alles ihr erzählen und dann ... hätte ich’s Dir sicher nicht so ungefiltert und halb-betrunken geschrieben, wie ich jetzt bin …
Ich war grad an der 1.-August-Feier in Oberwil, weil ich dort die Ansprache halten durfte. Ich hab eine Woche dran gearbeitet (no shit, wirklich etwa eine Woche!). Und ich war noch immer nicht zufrieden damit, weil ich so furchtbar huere nett war, aber irgendwie auch nicht anders konnte. Schon auch so mit einer Botschaft von "seid mal chli nice miteinander", aber ääähk, letztes Mal wars das erste Mal das war irgendwie geiler und intuitiver und bitz subversiv ... egal, darum geht's gar nicht.
Worum’s geht ist, dass nachher eine Frau zu mir gekommen ist. Vielleicht 70 oder so, ich kann das nie so recht schätzen; vielleicht also auch 75, vielleicht 80. Und sie kam auch nicht sofort, mehr so zwei Stunden später. Und sie ist zu mir hingesessen und um uns herum diese Kantonsfähnli-Girlanden und die Lampions und ich habe mir gesagt, ich hör der jetzt einfach mal fucking zu, weil nämlich sonst nie jemand irgendwem fucking zuhört und also hab ich ihr einfach mal zugehört.
Und am Anfang war soviel Unzufriedenheit, dass sie Freiwilligenarbeit machen will, aber nicht für die Bonzen vom Vorderberg und dass sie im Quartier wohnt, wo jetzt verdichtet wird und dass der Planer gesagt hat, ja die Leute am Vorderberg die wollen halt nicht dass man dort verdichtet und alles ist so mega Scheisse und der Putin und die Welt und die Umwelt und ihre vier Söhne hören ihr auch überhaupt nicht zu und alles ist Scheisse und sie will eigentlich nur noch sterben, aber bei Exit kommt sie damit nicht durch und das hat sie mir alles gesagt und ich hab zugehört und hab nicht argumentiert und nicht «wirdschon» gesagt, sondern einfach nur so gut ich konnte zugehört auf der Waldfestgarnitur während im Hintergrund die Schlagerband «Mariiiiiaaaa» geschunkelt hat oder irgendwas in der Art.
Und als sie fertig war, hab' ich noch immer nicht gross was gesagt, aber immernoch zugehört und also hat sie weitererzählt. Davon, dass ihre Mutter und ihre Schwestern gleich nach dem Krieg für Ferien in die Schweiz gekommen sind (hast du zufällig die SRF-Serie "Frieden" gesehen?), als kriegstraumatisierte Überlebende und dass sie die einzige ist, die nach dem Krieg geboren ist und ihre Familie heilen musste, und dass da soviel transgenerationales Trauma ist, das sie und die ganze Familie beschäftigt und dass sie nach dem Berufsleben ein Psychologiestudium und eine Therapeutinnenausbildung gemacht hat, um Traumatisierten zu helfen und ich bin einfach nur dagesessen und habe zugehört und gedacht, was für ein Geschenk mir die Frau gerade macht (Einschub der Stimme der Vernunft: vielleicht war’s auch schon, als die Jungs gross genug waren oder nach der Scheidung oder so, wie gesagt: es war laut und «Atemlooos» und «Alice, who the fuck is Alice?»).
Jedenfalls habe ich, (wenn ich was gesagt habe), gesagt dass mir das alles mega leid tut und dass ich nichts tun kann für sie und sie hat (wenn ich was gesagt habe) gesagt, dass das immerhin das ist.
Und wir haben vielleicht eine halbe Stunde gesprochen, ich kürze hier etwas ab, und am Schluss hat's sich einfach nach Schluss angefühlt und also habe ich meine eine Hand auf den Tisch gelegt, meine grosse Ben-Hand und sie hat ihre eine Hand, ihre faltige alte kleine Zupackerinnenhand obendrauf gelegt und dann habe ich meine andere Hand wiederum auf ihre Hand obendrauf gelegt und so habe ich sie vielleicht zwei Sekunden gehalten (klingt nach nichts, aber zähl mal auf zwei: ist mega lang) und dabei haben wir uns angesehen und es war ... es war einfach nur gut.
Es war ein riesengrosses Geschenk und das einzige, was ich akustisch («Griiiiechischer Weiiiin»!) nicht verstanden hatte war, ob ihre Familie jüdisch war oder sonst traumatisiert und sonst in die Schweiz geschickt wurde, aber dann habe ich jetzt beim Heimkommen ein Mail von ihr in der Mailbox gehabt (sie wollte ein Ticket für eine Vorstellung von mir kaufen und hats nicht geschafft) und sie hat einen jüdischen Namen und ich weiss nun A), dass sie wohl die Mutter eines ehemaligen Mitschülers von mir ist (den ich gut mag und der ein feiner Kerl ist, obschon ich mir auch das mit dem nicht-zuhören durchaus vorstellen kann). Und B ) verstehe ich nun definitiv, warum sie - als sie etwas von transgenerationalem Trauma gesagt hat und ich dann gesagt habe 'die Familie meiner Frau kam auch im Kontext des 2WK in die Schweiz, ich weiss was transgenerationales Trauma ist' - warum sie also dort gesagt, ich solle gut auf meine Frau aufpassen, was ich mir natürlich zu Herzen nehme.
So, das war jedenfalls die Geschichte von heute Abend und es war mega schön und bitzli betrunken und wenn ich nächstes Mal eine 1.-August-Rede halten soll, dann werde ich imfall sagen «Leute, es gibt Leute hier die haben Verwandte bei beschissenen fucking Verkehrsunfällen verloren, fucking sinnlosen Verkehrsunfällen und andere hier haben Krebs, fucking auch komplett sinnlosen Krebs und wieder andere oder auch dieselben haben transgenerationale Traumata ... ists angesichts von dem allem jetzt wirklich zuviel verlangt, mal ein bisschen nett miteinander zu sein und mal irgendwo einen Baum stehen zu lassen auch wenn’s jetzt kein profitmaximierter Baum ist und überhaupt, Leute, was genau ist eigentlich euer Problem euch gehts doch allen so unglaublich fucking gut?»
Und was ich dir übrigens auch mal noch erzählen wollte, ist, dass viel von dem Mut, den ich in den letzten Jahren habe, von dem Zeug, das ich mich zu trauen beginne, halt einfach auch ganz simpel damit zu tun hat, dass du mich mal gefragt hast, was eigentlich mein Problem ist (ich habe vermutlich von irgendwelchen Schwierigkeiten erzählt, die mich grad beschäftigten). Wovor ich denn eigentlich Angst habe, angesichts der Tatsache dass die ganze verdammte Welt komplett für mich eingerichtet ist und 'the whole freakin’ deck is stacked in your favour!' - oder so ähnlich, wir redeten damals zimmli sicher nicht Englisch miteinander. Und das ist mir imfall extrem geblieben, weil's mir die Augen aufgemacht hat, aber auch weil mir klar geworden ist, dass ich auch eine Verantwortung habe, wenn es mir schon so verdammt mega gut geht und darum habe ich dann angefangen mutig zu sein und ich weiss auch nicht: irgendwie dachte ich, ich könnte Dir das mal erzählen ...
So. Und damit wende ich mich meinem Mitternachtssnack (poah, Jodelchörli und Landeshymne kann man sich ja einmal im Jahr geben, aber in Mayonnaise ersäufter Kartoffelsalat … warum??) und dann dem Bett zu, aber bevor ich das tue, drücke ich dich über die Distanz so fest ich irgendwie kann und sag dir, wie glücklich ich bin, dass es dich gibt. Einen wunderschönen Tag Dir! - Und bis bald.
Ben
(Publiziert, weil Ondine fand, das könnte auch andere interessieren)